Sibylle Kraus
schrieb am 1. September 2025 um 15.54 Uhr
Für mich war Tante Mary Künstlerin und Lebenskünstlerin zugleich.
Die Verwirklichung der eigenen kreativen Berufswünsche wurde zurückgestellt, um die Geschwister und die Mutter zu ernähren. Beklagt hat Sie sich darüber selten oder nie. Oder ich habe es nur nicht gehört.
Selbstverständlich nach dem Tod des Vaters die Ernährerin für die Familie und später die zuständige Bezugsperson für ihre Schwester Leni zu sein – all das war für Tante Mary eine natürliche Konsequenz aus der Bedeutung, die FAMILIE als für Sie hatte.
In meinen Kindheitserinnerungen waren Treffen mit Tante Mary immer herzlich, lecker und fröhlich. Ich erinnere noch ein bestimmtes Hähnchengericht aus dem Römertopf, das Sie auf den Tisch gebracht hat, wenn wir als Familie angerückt oder eingefallen sind.
Und an den Nymphensittich, den sie in Pflege genommen hatte und der ihr Mitbewohner wurde und auf dem Podest in der Landhausstraße in einem goldenen Käfig residierte.
Und wie sauer er auf sie war, wenn sie im Urlaub war. Tante Mary meinte, er sei dann immer beleidigt gewesen und habe erstmal nicht mehr mit ihr geredet.
Lebenskünstlerin war sie für mich, weil sie es verstand, das Leben zu feiern. Atmosphäre zu schaffen. Schöne Momente zu genießen und zu erschaffen.
Und ich habe Sie bewundert, wie klar und entschlossen Sie sich um einen Platz im betreuten Wohnen gekümmert hat. Und proaktiv dem Älter werden und dem körperlich beeinträchtigter werden fest in die Augen sah.
Klare Vorstellungen hatte sie: es sollte zentral in der Stadt sein und in dem Haus in der Wagnerstraße, dass sie sich ausgeguckt hatte ein Wohnraum zum Innenhof hin.
Heißbegehrt die Lage, normalerweise lange Wartezeiten. Wenige Wochen nach ihrem beherzten Entschluss, sich dort anzumelden, wurde ihr eine winzige 1.5 Zi Wohnung genau dort angeboten.
Was es bedeutet seinen Wohnraum um 75% zu verkleinern, brauche ich hier nicht zu vertiefen.
Und Sie hat sich auch da wieder ein Paradies geschaffen. Sofa und Sessel erhielten einen unterschiedlichen Bezug für das Sommerhalbjahr und das Winterhalbjahr. Wegen der Abwechslung.
Die Vitrine mit ihren Puppen einen festen Platz.
Eine Fotoecke mit Fotos von allen Neffen und Nichten und Großnichten natürlich auch dabei.
Das mit den alten Puppen und der Kleidung aus historischen Stoffen war Hobby und Nebentätigkeit zugleich. Großes Fest, wenn eine Puppe verkauft wurde … in den Zeiten, als es dafür noch einen Markt gab.
In den Jahren in der Wagnerstraße als der Kopf noch klar war und Tante Mary körperlich noch recht fit war, war Sie beständig dabei, ihr Ableben zu regeln. Und Kunstbücher, Besteck und Mokkatassen schon mal in gute Hände abzugeben.
Diese große Offenheit und Bereitschaft zur Veränderung und aktiven Gestaltung von Lebens-Situationen war ihr in den letzten Jahren nicht mehr gegeben.
Ihre Demenz-Erkrankung forderte ihren Tribut. Das Festhalten am Vertrauten, Gewohnten in einer Innenwelt in der alles verschwimmt und verschwindet prägte die letzten Jahre in der Wagnerstraße.
Freiwillig war das nicht, dass Sie diese Räumlichkeiten verließ. Aus ihrer Sicht, klappte doch alles noch super.
Die Außenperspektive war da eine andere. Ein rührendes Beispiel aus der Haushaltsauflösung in der Wagnerstraße: Unterm Sofa in der Wagnerstraße fand Achim eine Pappschachtel, liebevoll verschnürt mit einem nur wenig angebissenen Steak. Das Steak war schon älter - weggeworfen hat sie es nicht. Lebensmittel wegwerfen war nix für diese Generation.
Achim hatte schwere Entscheidungen zu treffen. Wir Geschwister haben intensive Gespräche geführt. den Löwenanteil an Orga, regeln, handeln Unterlagen zusammenstellen, Kontakte mit Krankenkasse, Pflegekasse, dem Sozialamt und der Bank nebst der Wohnungsauflösung lag alles in seinen Händen. Und seine zuverlässige, transparente Kommunikation mit uns allen, um uns immer auf dem Laufenden zu halten habe ich immer bewundert.
Für mich war Tante Mary ein großes Vorbild in Künstlerin sein mitten im Alltag.
Als sie noch bei Breuninger gearbeitet hat, hat Sie ihrem Vorgesetzen eines Tages verkündet, statt mehr Gehalt wolle sie Mittwoch nachmittags ab jetzt immer frei. Und spazierte dann jahrelang mittwochs um 14.00 aus dem Geschäft auf den Markt, kaufte Blumen – ging nach Hause und malte den Strauß. Um in Übung zu bleiben.
Zu ihrem 60. Geburtstag verwirklichte sie ihren künstlerischen Traum und gab ihre erste eigene Ausstellung. Ihre Geschwister haben in der Bild-Zeitung heimlich eine Anzeige dazu geschaltet. Ein großer Erfolg.
Nur im Vorfeld gab es kurz Turbulenzen: als die Koordinatiorin sie bei der Hängung der Ausstellung nach der Preisliste fragte, war Tante Mary entsetzt: das sind meine Kinder, die verkaufe ich nicht! Antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. Als dann klar war, dass Bildverkauf zu den Spielregeln dazugehörte und ohne Preise keine Ausstellung, ging Tante Mary nach Hause, malte in Nachtschicht in den nächsten 10 Tagen mehrere Bilder von denen sie bereit war sich zu trennen – und durfte dann an ihre Lieblingsbilder den roten Punkt machen (schon verkauft … das kriegt keiner) und hatte genug Bilder zum verkaufen.
Mich hat sehr berührt, als mit Anfang 80 an einem Sommerkurswoche der Voklshochschule über abstrakte Malerei mit Acryl in der Wilhemla teilgenommen hat. Wo doch klar war, sie hat ihre künstlerische Heimat im Gegenständlichen und Aquarell gefunden. Sie hat dieses Ausflug in fremde kreative Gebiete gemacht, weil sie interessiert hat, was ich da treibe. Was mich motiviert, wie abstrakte Kunst entsteht. Ich habe sie geliebt, die Telefonate mit ihr, wenn ich ihr Fotos über meine neuesten Werke oder Entwürfe geschickt habe und wir das dann ausgiebig miteinander besprechen konnten.
Auf den Leinwänden, die ich bei der Haushaltsauflösung aus der Wagnerstraße überehmen durfte ist auf 8 quadratischen Leinwänden die jeweils 80x80 cm groß sind einen sonnengelbe luftige gesprenkelte Serie entstanden, die in der dunklen Jahreszeit Heiterkeit und Sonne in meine Räume zaubert.
Auf diese Weise ist ein Stück von ihr und ihrer Lebensfreude und Wärme bei mir.
Und ich wünsche mir, mit 80 noch so neugierig und experimentierfreudig und offen zu sein wie Tante Mary.
Ich schicke einen Sonnenstrahl für alle von der Ostsee und werde in Gedanken bei euch bei der Abschiedsfeier dabei sein.
Langballig, 01.09.2025 Sibylle Kraus